Lovetalk.de

Zurück   Lovetalk.de > > >
Alle Foren als gelesen markieren

 
 
Themen-Optionen
Alt 03.01.2002, 22:37   #1
Mutabór
Member
 
Registriert seit: 07/2000
Ort: Sachsen
Beiträge: 304
Das hier ist extra für alle Freunde von schönen Geschichten und hoffentlich regelkonform.

Wie mancher vielleicht weiß, ist Mutabor das Zauberwort, das Tiere in Menschen verwandelt. Ersonnen hat es einer der großen Märchenerzähler, nämlich der Herr Hauff für sein Märchen vom Kalif Storch.

Ich denke mal, für die meisten von Euch sind Märchen Kinderkram, aber meistens steckt mehr dahinter, als man glaubt.

Als ein sehr schönes Märchen möchte ich euch als erstes ein armenisches Zaubermärchen vorstellen, das ziemlich gut verpackt den Lauf des Lebens zum Inhalt hat.

Wer durchhält, alles zu lesen, hat schon mal viel Geduld bewiesen. Und ich hoffe, demjenigen hat es dann auch gefallen.

Viel Spass, Mutabór
Mutabór ist offline  
Alt 03.01.2002, 22:37 #00
Administrator
Hallo Mutabór, in jeder Antwort auf deinen Beitrag findest du eine Funktion zum Melden bei Verstössen gegen die Forumsregeln.
Alt 03.01.2002, 22:38   #2
Mutabór
Member
Themenstarter
 
Registriert seit: 07/2000
Ort: Sachsen
Beiträge: 304
Vom Schlangenjüngling Odzamanuk und von Arewamanuk, auf den die Sonne zornig war

Es war einmal ein König, der hatte keine Kinder. Eines Tages jagte er in den Bergen und sah eine Schlange mit ihren Kindern in der Sonne spielen.
Sieh an, dachte der König, selbst die Schlange hat Kinder. Nur ich habe keine. Ich habe weder einen Sohn noch eine Tochter, nicht einmal ein Schlangenkind habe ich.
Doch als er heimkehrte, meldete man ihm: "Die Königin hat die einen Sohn geboren mit dem Kopf eines Menschen und dem Körper einer Schlange."
Sie nannten den Königssohn Odzamanuk, was soviel heißt wie "Schlangenjüngling". Doch womit sie das Schlangenkind auch fütterten, alles lehnte es ab und verlangte Menschenfleisch. Da erließ der König den Befehl, dem Schlangenjüngling jeden Tag ein junges Mädchen zum Mahl zu reichen.
Die Reihe kam auch an die Familie eines armen Bauern. Er hatte zwei Töchter: eine leibliche Tochter und eine Stieftochter. Da sprach er zu seiner Frau: "Wir werden deine Tochter in den Palast bringen."
Doch die Stiefmutter wollte nichts davon hören. Sie tobte und setzte ihrem Mann arg zu und rüstete die Stieftochter für den Gang zum Schlangenjüngling. Das Mädchen weinte, der Vater weinte, aber was half´s, am nächsten Morgen mußte sie in den Palast. Sie legten sich schlafen, und das Mädchen hatte einen Traum, in dem ein Unbekannter zu ihr sprach: "Habe keine Angst, nimm einen Krug mit Milch mit, ein Messer und eine Ochsenhaut. Wenn du zu dem Schlangenjüngling Odzamanuk gehst, hülle dich in die Haut, zerschneide ihm die Schlangenhaut und wasche ihn mit Milch. Dann wirst du sehen, was passiert."
Am nächsten Morgen erzählte das Mädchen seinem Vater den Traum.
Sie machten sich fertig und gingen in den Palast. Des Königs Diener ließen das Mädchen in den tiefen Keller hinab, in dem der Schlangenjüngling lebte. Er stürzte sich auf das Mädchen, doch er konnte die Ochsenhaut nicht sogleich durchbeißen. Das Mädchen aber ritzte ihm mit dem Messer die Haut auf und wusch ihn geschwind mit der Milch. Die Schlangenhaut find an zu bersten, vor Schreck wich das Mädchen zurück, fiel hin und schlug sich einen Schneidezahn aus.
Als sie wieder aufstand und sich umblickte, da stand vor ihr ein wunderschöner Jüngling mit geschwungenen schwarzen Augenbrauen. Der Vater des Mädchens spähte in den Keller und dachte: Sicherlich ist meine Tochter umgekommen. Doch was sah er? Die Tochter stand da und unterhielt sich seelenruhig mit einem wunderschönen Jüngling.
Da lief der Bauer zum König, erzählte, was er gesehen hatte. König und Königin freuten sich, und aus lauter Freude ließen sie zur Hochzeit aufspielen. Der Königssohn vermählte sich mit der Bauerstochter, die ihn von der Schlangengestalt erlöst hatte. Der Name Odzamanuk blieb zwar an dem Jüngling haften, doch darauf achtete niemand.
Lange hätten sie glücklich zusammengelebt, doch da brach ein Krieg aus, und Odzamanuk rüstete sich, sein Land zu verteidigen. Beim Abschied sprach er zur Königin: "Mütterchen, laßt meine Frau niemals weg, besonders nicht in ihr Vaterhaus."
Die Stiefmutter unterdessen war zornerfüllt, daß sie nicht ihre eigene Tochter zu Odzamanuk geschickt hatte. Sie wütete, daß die Stieftochter im Königspalast war, und sann auf Böses. Kaum war Odzamanuk davongeritten, kam sie in den Palast und bat die Königin, die Tochter doch auf Besuch heimzulassen. Anfangs willigte die Königin nicht ein, doch dann ließ sie sie ziehen.
Zu Hause angekommen, suchte die Stiefmutter alle Wäsche zusammen, die im Hause war und sprach: "Gehen wir zum Fluß, meine Töchter, Wäsche waschen."
Sie begaben sich zum Fluß, verteilten sich am Ufer und fingen an zu waschen. Da packte die Stiefmutter die Stieftochter und stieß sie in den Fluß, und der schelle Fluß trug sie geradewegs aufs offene Meer hinaus.
Die Stiefmutter zog ihrer Tochter die Kleider der Stieftochter an und schickte sie in den Palast. Die arme Stieftochter aber hielt sich an einem Brettchen fest und schwamm und schwamm, bis eine Welle sie auf ein unbewohntes Eiland warf. Sie kletterte ans Ufer, weinte bittere Tränen, beklagte ihr Schicksal und den geliebten Mann, den Königssohn Odzamanuk.
Sie flocht sich eine Decke aus Schilf, und als sie fertig war, wickelte sie sich darin ein und durchstreifte traurig die Insel. Lange schon war sie gegangen, da stieß die auf eine Hütte aus Schilf und Zweigen. Sie spähte hinein und traute ihren Augen nicht: Ein wunderschöner Recke schlief fest an einem Herd, in dem das Feuer erloschen war.
Er erwachte und fragte verwundert: "Wer bist du? Und wie bist du hierhergekommen?"
Da erzählte sie ihm ihre traurige Geschichte.
Und der Jüngling berichtete von seinem Schicksal: " Ich bin der Sohn eines reichen Mannes. Ich lebte so in den Tag hinein, kannte keine Sorgen, ging spazieren und auf die Jagd und tat weder für mich noch für andere etwas n
Nützliches. Ich war derart verwöhnt, daß ich glaubte, die ganze Welt müsse mir dienen. Nun geschah es, daß ich an einem heißen sonnigen Tag umsonst zur Jagd auszog. Den ganzen Tag ritt ich über Berg und Tal und konnte kein Wild erlegen. Die Sonne blendete mich. Da dachte ich: Morgen früh will ich die Sonne erschießen, sie stört mich bei der Jagd. Kaum zeigte sich am nächsten Morgen der Sonnenball über den Bergen, da spannte ich den Bogen - und plötzlich übergoß Feuerröte den Himmel und blendete mich. Eine Feuerhand packte mich am Haar und warf mich hierher, auf diese unbewohnte Insel. Jetzt bin ich verflucht - ich kann das Sonnenlicht nicht ertragen und muß des Nachts aufsein und am Tage schlafen. Die Sonnenstrahlen wirken tödlich auf mich. Ich bin Arewamanuk, das Sonnenkind, wie ich zum Scherz genannt werde. Mein Schicksal ist bitter, aber ich habe es selbst verdient."
Da sie das Schicksal nun mal beide auf diese unbewohnte Insel verschlagen hatte, kamen sie überein, als Mann und Frau zusammen zu leben.
Tagsüber arbeitete die Frau und bestellte das Feld, des Nachts ging der Mann auf die Jagd und holte Wasser aus einer Quelle.
Einige Zeit war vergangen, da wurde ihnen ein Sohn geboren, Arewamanuk sprach zu seiner Frau: " Es ist unserem Kind nicht zuträglich, daß es auf dieser Insel aufwächst. Hier bekommt es keinen Menschen zu Gesicht und lernt auch nichts. In der Nacht will ich dich in einem Boot zu meinen Eltern bringen, und du sollst mit unserem Sohn bei ihnen leben."
Arewamanuk schrieb seinen Eltern einen Brief: " Ich schicke meine Frau mit unserem Sohn zu euch, ich aber darf mich bei Tageslicht nur in meiner Schilfhütte aufhalten, sonst muß ich sterben."
Voller Freude nahmen Arewamanuks Eltern die Schwiegertochter mit dem Enkelkind bei sich auf.
Eines Tages vernahmen sie, wie die Stieftochter in der Dunkelheit das Kind in den Schlaf wiegte und sang: "Schlaf mein Söhnchen, schlafe ein, eiapopeia."
Und eine Männerstimme wiederholte: "Eiapopeia."
Verwundert fragten sich die Eltern, wer das sein mochte? Sie quälten die Schwiegertochter mit Fragen, und schließlich gestand sie: " Das ist euer Sohn, er kommt des Nachts hierher geschwommen, um sein Söhnchen zu sehen. Nur dürft ihr ihn nicht in euer Haus bitten; bevor die Sonne aufgeht, muß er immer in seiner Schilfhütte sein, sonst trifft ihn der Tod."
Die Alten warteten die Nacht ab. Sie schlichen in den Garten und sahen die Schwiegertochter auf und ab gehen und den Sohn auf den Armen wiegen. Plötzlich hörten sie, wie jemand die Schwiegertochter rief und sich ganz leise einen Weg durch die Bäume bahnte. Sie sahen genau hin und erkannten ihren Sohn. Sie umfaßten und umarmten ihn, küßten ihn und zogen ihn ins Haus.
"Rührt mich nicht an", flehte Arewamanuk. " Ich darf nicht ins Haus kommen, ich kann nicht bei euch bleiben, sonst muß ich sterben."
Doch die Eltern glaubten ihm nicht, zogen ihn ins Haus, bewirteten ihn aufs beste und plauderten mit ihm. Arewamanuk aber vergaß alles, und mit dem ersten Sonnenstrahl fiel er auf die Erde nieder, und sein Atem stockte. Sein Lebenslicht brannte jedoch noch ganz, ganz schwach. Die Eltern brachen in Tränen aus und rauften sich die Haare, doch was half alles Jammern?
In der folgenden Nacht hatte Arewamanuks Mutter einen Traum. Ein Unbekannter erschien und sprach: "Erhebe dich schnell, ziehe Dir eiserne Schuhe an, nimm einen eisernen Stab und gehe gen Westen. Dort, wo deine Schuhe Löcher bekommen und der Stab zerbricht, wirst du das mittel finden, das deinen Sohn wiedererweckt."
Da stand die Mutter auf, zog sich eiserne Schuhe an, nahm einen eisernen Stab und wanderte gen Westen. Lange war sie unterwegs, ein Jahr vielleicht oder zwei. Sie kam in das Land der weißen Menschen und dann in das Land der schwarzen Menschen, dann flogen nur noch Vögel umher, sprangen nur noch Tiere vorbei, und danach gab es gar nichts mehr und sie gelangte ans Ende der Welt. Dort stand ein wunderschöner Palast aus blauem Marmor. Als sie sich endlich dem Palast näherte, zersplitterte der Stab und ihre eisernen Schuhe bekamen Löcher. Sie durchschritt eine Ehrenpforte und gelangte in einen prächtigen Garten. Am Ende des Gartens erblickte sie wieder eine blaue Pforte und so ging sie durch zwölf Gärten und zwölf Pforten und kam in ein blaues Schlafgemach, wo genau tausend Sternlein still schlummerten. Auch war es ganz still. Plötzlich gewahrte sie einen goldenen Diwan, auf dem die Lichtkönigin Lujs saß, die Mutter Aregaks - des goldenen Sonnenstrahls. Die Lichtkönigin fragte sie: " Warum bist du zu mir gekommen?" " Ich bitte dich, meinem Sohn das Leben zurückzugeben", entgegnete die Pilgerin und verneigte sich.
"Du hast einen schlechten Sohn großgezogen", erwiderte die Königin Lujs. " Du hast ihn verwöhnt. Daher ist er böse geworden und wollte Aregak, meinen Sohn töten."
Arewamanuks Mutter senkte den Kopf, errötete vor Scham und sprach: " Du hast recht, o Königin, aber er hat viel erduldet, und er hat sich geändert. Verzeihe ihm, schenke ihm das Leben zurück. Du bist doch auch eine Mutter, du mußt mich verstehen."
"Soll es so sein." Die gute Königin Lujs seufzte. " Verstecke dich dort, hinter der Perlendecke. Gleich wird es auf der Erde Nacht werden, und Aregak - der Sonnenstrahl - kehrt heim. Er wird in dem Becken baden, und wenn er es verläßt, schöpfe daraus Wasser. Mit diesem Wasser wasche deinen Sohn. Dann erhält er sein Leben zurück."
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, da erschien Aregak, der feuerglühende Sonnenstrahl, und tauchte in das Wasser. Als er wieder herausstieg, schöpfte Arewamanuks Mutter Wasser und machte sich mit dem Riesenlöffel voller Wasser auf den Heimweg. Daheim wusch sie Arewamanuk mit dem Sonnenwasser, er erhielt sein Leben zurück und der Fluch war von ihm genommen.
Die Kunde über das Wunder durcheilte alle Länder, auch Odzamanuk hörte davon, der aus dem Krieg zurückkehrte. Im Palast merkte er sofort, daß man seine Frau vertauscht hatte.
Da begab er sich zu Arewamanuks Mutter, um ihren Rat zu erbitten, ob sie ihm nicht in seinem Kummer helfen könne und ein Mittel wüßte, die Frau zu finden, ohne die er bis jetzt noch eine Schlange wäre.
Odzamanuk wurde freundlich aufgenommen, genötigt, Platz zu nehmen, und bewirtet. Er erzählte alles der Reihe nach und wie er an die Stelle kam, wo das Mädchen, das ihn gerettet hatte, zurückgewichen und sich einen Schneidezahn ausgeschlagen hatte, lächelte die Schwiegertochter und in ihrem Mund blitzte ein goldener Schneidezahn auf.
Da erkannte Odzamanuk seine geliebte Frau. Doch nun waren sie alle verwirrt und guter Rat war teuer.
Odzamanuk rief Arewamanuk zur Seite und sprach: " Du bist nicht schuld, Arewamanuk, und ich bin es auch nicht. So hat sich nun mal alles gefügt. Laß uns das Schicksal prüfen. Geben wir der Frau gesalzenen Kebab, wir selbst nehmen aber ein Glas Wasser in die Hand, wen sie um das Wasser bittet, dem soll sie gehören."
Sie bestiegen die Pferde und ritten aufs Feld. Die Frau mit dem Kind auf dem Arm folgte ihnen und rief: "Arewamanuk!"
Er stieg vom Pferd und wollte ihr das Wasser reichen, als sie schon "Odzamanuk!" rief.
Auch er stieg vom Pferd. Die Frau stand zwischen ihnen und sprach: " Arewamanuk, da hast du deinen Sohn. Ich lasse ihn dir, ziehe ihn groß, doch ich gehe mit Odzamanuk, weil ich seine angetraute Frau bin."

Drei Äpfel sind vom Himmel gefallen: einer für den Erzähler, einer für den Zuhörer und der dritte für den, der sich´s hinter die Ohren geschrieben hat.

Aus "Der Edelsteinbaum"


Beitragsmeldung
Dieser Beitrag verstößt gegen die Forenregeln? Hier melden.
Mutabór ist offline  
Alt 03.01.2002, 23:10   #3
Poet
Guiding light
 
Registriert seit: 05/2000
Beiträge: 12.240
"Der Wunderbaum"




Der Hirtenknabe - ob er gerade der Sohn des armen Mannes war, den unser Herr Christus und Petrus gesegnet hatten, weiß ich nicht - erblickte eines Tages, als er die Schafe weidete, auf dem Felde einen Baum, der war so schön und groß, daß er lange Zeit voll Verwunderung dastand und ihn ansah. Aber die Lust trieb ihn hinzugehen und hinaufzusteigen; das wurde ihm auch sehr leicht, denn an dem Baume standen die Zweige hervor wie Sprossen an einer Leiter. Er zog seine Schuhe aus und stieg und stieg in einem fort neun Tage lang. Siehe da kam er nur einmal in ein weites Feld, da waren viele Paläste von lauter Kupfer, und hinter den Palästen war ein großer Wald mit kupfernen Bäumen, und auf dem höchsten Baume saß ein kupferner Hahn; unter dem Baume war eine Quelle von flüssigem Kupfer, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse; sonst schien alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich.
Als der Knabe alles gesehen, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum, und weil seine Füße vom langen Steigen müde waren, wollte er sie in der Quelle erfrischen. Er tauchte sie ein, und wie er sie herauszog, so waren sie mit blankem Kupfer überzogen; er kehrte schnell zurück zum großen Baum; der reichte aber noch hoch in die Wolken, und kein Ende war zu sehen. "Da oben muß es noch schöner sein!" dachte er und stieg nun abermals neun Tage aufwärts, ohne daß er müde wurde, und siehe da kam er in ein offenes Feld, da waren auch viele Paläste, aber von lauter Silber, und hinter den Palästen war ein großer Wald mit silbernen Bäumen, und auf dem höchsten Baum saß ein silberner Hahn; unter dem Baum war eine Quelle mit flüssigem Silber, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse, sonst lag alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich.

Als aber der Knabe alles gesehen hatte, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum und wollte sich aus der Quelle die Hände waschen; wie er sie aber herauszog, waren sie von blinkendem Silber überzogen. Er kehrte schnell zurück zum großen Baum, der reichte noch immer hoch in die Wolken, und es war noch kein Ende zu sehen. "Da oben muß es noch schöner sein!" dachte er und stieg abermals neun Tage aufwärts, und siehe da war er im Wipfel des Baumes, und es öffnete sich ein weites Feld; darauf standen lauter goldne Paläste, und hinter den Palästen war ein großer Wald mit goldnen Bäumen, und auf dem höchsten Baum saß ein goldner Hahn; unter dem Hahn war eine Quelle mit flüssigem Golde, die sprudelte immerfort, und das war das einzige Getöse; sonst lag alles wie tot, und niemand war zu sehen, und nichts regte und rührte sich. Als der Knabe alles gesehen hatte, brach er sich ein Zweiglein von einem Baum, nahm seinen Hut ab, bückte sich über die Quelle und ließ seine Haare ins sprudelnde Gold hineinfallen. Als er sie aber herauszog, waren sie übergoldet. Er setzte seinen Hut auf, und wie er alles gesehen hatte, kehrte er zurück zum großen Baum und stieg nun in einem fort wieder hinunter und wurde gar nicht müde. Als er auf der Erde angelangt war, zog er seine Schuhe an und suchte seine Schafe; doch er sah von ihnen keine Spur. In weiter Feme aber erblickte er eine große Stadt; jetzt merkte er, daß er in einem andern Lande sei. Was war zu tun.
Er entschloß sich hineinzugehen und sich dort einen Dienst zu suchen. Zuvor jedoch versteckte er die drei Zweiglein in seinen Mantel, und aus dem Zipfel desselben machte er sich Handschuhe, um seine silberigen Hände zu verbergen.
Als er in der Stadt ankam, suchte der Koch des Königs gerade einen Küchenjungen und konnte keinen finden; indem kam ihm der Knabe zu Gesicht. Er fragte ihn, ob er um guten Lohn Dienste bei ihm nehmen wolle. Der Junge war das zufrieden unter einer Bedingung: er solle den Hut, den Mantel, die Handschuhe und die Stiefel nie ablegen müssen, denn er habe einen bösen Grind und müßte sich schämen. Das war dem Koch nicht ganz recht; allein weil er sonst niemanden bekommen konnte, mußte er einwilligen. Er gedachte bei sich: "Du kannst ihn ja immer nur in der Küche verwenden, daß niemand ihn sieht." Das währte so eine Zeitlang. Der Junge war sehr fleißig und tat alle Geschäfte, die ihm der Koch auftrug, so pünktlich, daß ihn dieser sehr liebgewann. Da geschah es, daß wieder einmal Ritter und Grafen erschienen waren, die es unternehmen wollten, auf den Glasberg zu steigen, um der schönen Tochter des Königs, die oben saß, die Hand zu reichen und sie dadurch zu erwerben. Viele hatten es bisher vergebens versucht; sie waren alle noch weit vom Ziele ausgeglitscht und hatten zum Teil den Hals gebrochen. Der Küchenjunge bat den Koch, daß er ihm erlauben möchte, von ferne zuzusehen. Der Koch wollte es ihm nicht abschlagen, weil er so treu und fleißig war, und sagte nur: "Du sollst dich aber versteckt halten, daß man dich nicht sieht!" Das versprach der Junge und eilte in die Nähe des Glasberges.
Da standen schon die Ritter und Grafen in voller Rüstung mit Eisenschuhen, und sie fingen bald an, der Reihe nach hinaufzusteigen; allein keiner gelangte auch nur bis in die Mitte, sie stürzten alle herab, und manche blieben tot liegen. Nun dachte der Knabe bei sich: "Wie wäre es, wenn du auch versuchtest?" Er legte sogleich Hut und Mantel und Handschuhe ab, zog seine Stiefel aus und nahm den kupfernen Zweig in die Hand, und ehe ihn jemand bemerkt hatte, war er durch die Menge gedrungen und stand am Berge; die Ritter und Grafen wichen zurück und sahen und staunten; der Knabe aber schritt sogleich den Berg hinan ohne Furcht, und das Glas gab unter seinen Füßen nach wie Wachs und ließ ihn nicht ausgleiten. Als er nun oben war, reichte er der Königstochter demütig das kupferne Zweiglein, kehrte darauf sogleich um, stieg hinab, fest und sicher, und ehe sich's die Menge versah, war er verschwunden.
Er eilte in sein Versteck, legte seine Sachen an und war schnell in der Küche. Bald kam auch der Koch und erzählte seinem Jungen die Wunderdinge von dem schönen Jüngling mit den kupfernen Füßen, den silbernen Händen und den goldnen Haaren, und wie er den Glasberg erstiegen und ein kupfernes Zweiglein der Königstochter gereicht habe und wie er dann wieder verschwunden sei; dann fragte er den Jungen, ob er das auch gesehen habe. Der Junge sagte: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich ja selbst!" Aber der Koch lachte über den dummen Einfall und erwiderte im Scherz: "Na, da müßte ich dann ein großer Herr werden!"
Am andern Tage wollten es mehrere Ritter und Grafen wieder versuchen und versammelten sich vor dem Glasberg. Der Junge bat den Koch abermals, er möchte ihm erlauben, aus der Ferne zuzusehen. Der Koch konnte es ihm nicht abschlagen und sagte nur: "Du sollst dich aber versteckt halten, daß niemand dich sieht!" Das versprach der Junge und eilte an seinen gestrigen Platz. Die Ritter fingen an hinaufzusteigen, allein vergebens: sie stürzten alle herab, und mehrere blieben tot. Der Junge zögerte nicht länger und versuchte zum zweitenmal. Er hatte schnell seine Kleider abgelegt; er nahm das silberne Zweiglein und schritt, ehe man es merken konnte, woher er kam, durch die Menge, und alles wich vor ihm zurück, und er ging ruhig und sicher den Glasberg hinan, und das Glas gab nach wie Wachs und zeigte die Spuren, und wie er oben war, überreichte er demütig der Königstochter das Zweiglein; gerne hätte sie auch seine Hand gefaßt; er aber kehrte gleich zurück und schritt hinab und war in der Menge auf einmal verschwunden. Er warf seine Kleider um und eilte nach Hause. Bald kam auch der Koch und erzählte wieder von den Wunderdingen, von dem schönen Jüngling mit den kupfernen Füßen, den silbernen Händen, den goldenen Haaren und wie er hinangestiegen, der Königstochter ein silbernes Zweiglein gereicht, wie er herabgekommen und verschwunden sei. Er fragte seinen Jungen, ob er das nicht gesehen.
Der Junge sagte: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich selbst!" Der Koch lachte wieder recht herzlich und sagte im Scherz; "Da müßte ich auch ein großer Herr werden!"
Am dritten Tage wollten es einige Ritter und Grafen noch einmal versuchen und versammelten sich vor dem Glasberg. Der Junge bat den Koch wieder, er möchte ihm erlauben, aus der Ferne zuzusehen. Der Koch wollte ihm's nicht abschlagen und sagte nur; "Du sollst dich aber versteckt halten, daß niemand dich sieht!" Das versprach der Junge und eilte sogleich an seinen Platz. Die Ritter und Grafen versuchten's, aber umsonst; sie stürzten alle herab, und mehrere blieben tot liegen. Der Knabe dachte: "Noch einmal willst du es auch versuchen; er warf seine Kleider von sich, nahm das goldene Zweiglein und eilte, noch ehe man's merken konnte, woher er kam, durch die Menge bis zum Glasberg; alles wich vor ihm zurück. Da schritt er fest und sicher hinan, und das Glas gab nach wie Wachs und zeigte die Spuren, und als er oben war, überreichte er demütig das Goldzweiglein der Königstochter und bot ihr die rechte Hand; sie ergriff sie mit Freuden und wäre gern mit ihm den Berg hinabgestiegen. Der Junge aber machte sich frei und stieg allein hinunter und war wieder schnell unter der Menge verschwunden. Er legte seine Kleider an und eilte zurück an seinen Platz in die Küche.
Als der Koch nach Hause kam, erzählte er von den Wunderdingen, von dem schönen Jüngling mit den kupfernen Füßen, den silbernen Händen, den goldnen Haaren und wie er zum drittenmal den Glasberg erstiegen, der Königstochter ein goldnes Zweiglein gereicht und ihr die Hand geboten habe, wie er aber allein wieder herabgestiegen und unter der Menge verschwunden sei; er fragte ihn, ob er das nicht gesehen hätte. Der Junge sagte wieder: "Nein, das habe ich nicht gesehen, das war ich selbst!" Der Koch lachte wieder über den dummen Einfall und sprach: "Da müßte ich auch ein großer Herr werden!"
Der König aber und die Königstochter waren sehr traurig, daß der schöne Junge nicht erscheinen wollte. Da ließ der König ein Gebot ausgehen, daß alle jungen Burschen aus seinem Reiche barfüßig und bloßhäuptig und ohne Handschuhe vor dem König der Reihe nach vorübergehen und sich zeigen sollten. Sie kamen und gingen, aber der rechte, nach dem man suchte, war nicht unter ihnen. Der König ließ darauf fragen, ob sonst kein Junge mehr im Reich wäre. Der Koch ging sofort zum König und sprach: "Herr, ich habe noch einen Küchenjungen bei mir, der mir treu und redlich dient; der ist es aber gewiß nicht, nach dem ihr sucht! Denn er hat einen bösen Grind, und er trat nur unter der Bedingung zu mir in den Dienst, daß er Handschuhe, Mantel, Hut und Stiefel nie ablegen dürfe." Der König aber wollte sich überzeugen, und die Königstochter freute sich im stillen und dachte: "Ja, der könnte es sein!" Der Koch mußte dableiben; ein Diener brachte den Küchenjungen herein, der sah aber ganz schmutzig aus. Der König fragte: "Bist du es, der dreimal den Glasberg erstiegen hat?" - "Ja, das bin ich!" sprach der Junge, "und ich habe es auch meinem Herrn immer gesagt!" Der Koch fühlte bei diesen Worten den Boden nicht unter seinen Füßen, und die Rede blieb ihm eine Zeitlang stehen; endlich sagte er: "Aber wie kannst du hier so reden" Der König achtete indes nicht darauf, sondern sprach gleich zum Jungen: "Wohlan, entblöße dein Haupt, deine Hände und Füße!" Alsbald warf der Junge seine Kleider ab und stand da in voller Schönheit und reichte der Jungfrau die Hand, und sie drückte sie und war über die Maßen froh; es wurde die Hochzeit gefeiert, und nicht lange darauf übergab der König das Reich dem Jungen. "Glaubst du nun, daß ich es war, der dreimal den Glasberg erstiegen?" sprach der Junge zum Koch. "Was sollt' ich denn glauben, wenn ich das nicht glaubte!" sprach der Koch und bat um Verzeihung. "Nun, so sollst du auch ein großer Herr werden, wie du hofftest, und über alle Köche im Reich die Aufsicht führen."

Die junge Königin aber hätte gar zu gerne gewußt, woher ihr Gemahl die drei Zweiglein und die kupfernen Füße, die silbernen Hände und das goldige Haar habe. "Das will ich dir, mein Kind, nun sagen!" sprach der junge König eines Tages, "und du sollst auch selbst sehen, wie das zugegangen!" Er wollte mit ihr noch einmal auf den Wunderbaum steigen und die Herrlichkeit ihr zeigen; allein, als er an die Stätte kam, so war der Baum verschwunden, und kein Mensch hat weiter davon etwas gehört und gesehen.







Ein sächsische Volksmärchen aus Siebenbürgen, gesammelt von Josef Haltrich
Beitragsmeldung
Dieser Beitrag verstößt gegen die Forenregeln? Hier melden.
Poet ist offline  
Alt 03.01.2002, 23:17   #4
praisedeath
Spread your wings
 
Registriert seit: 11/2001
Ort: Austria
Beiträge: 3.902
hm...

schönes märchen! und was ist die moral daraus?
Beitragsmeldung
Dieser Beitrag verstößt gegen die Forenregeln? Hier melden.
praisedeath ist offline  
Alt 03.01.2002, 23:24   #5
Mutabór
Member
Themenstarter
 
Registriert seit: 07/2000
Ort: Sachsen
Beiträge: 304
prais

welches meinst Du?
Beitragsmeldung
Dieser Beitrag verstößt gegen die Forenregeln? Hier melden.
Mutabór ist offline  
Alt 03.01.2002, 23:28   #6
praisedeath
Spread your wings
 
Registriert seit: 11/2001
Ort: Austria
Beiträge: 3.902
hm..

deins mutabór! aber das andere tät mich auch interessiern... unser psycho-professor versucht immer alle märchen nach freud aufzulösen. da muss es doch andere wege geben!

poet is in seinem element...
Beitragsmeldung
Dieser Beitrag verstößt gegen die Forenregeln? Hier melden.
praisedeath ist offline  
Alt 04.01.2002, 19:19   #7
Mutabór
Member
Themenstarter
 
Registriert seit: 07/2000
Ort: Sachsen
Beiträge: 304
prais

Freud ist für mich nicht so der Märchenguru. Wenn Jung das mit dem kollektiven Bewusstsein verzapft hat, dann ist er den Märchen sicher näher gekommen als Freud.

Psychoanalyse gut und schön, aber Märchen haben außerdem die Eigenschaft, in enger Verbindung mit dem jeweiligen Volk zu stehen und Natur und Gesellschaft wiederzugeben.

Nichts desto trotz ist man sich in der Märchenforschung (ja, auch das gibt es) so ziemlich einig, was die Deutung einiger Motive angeht, z. B. soll der Glasberg, bzw. sein Erklimmen wie in Poets Märchen, der häufig in süd- und ostdeutschen Märchen auftaucht, für eine Todeserfahrung stehen.

Kann man alles sehen, wie man will, aber ich glaube, gerade Zaubermärchen haben oft eine sehr subjektive Deutung.

Das armenische Märchen hat, lässt man mal die Nebenhandlung beiseite, für mich die Bedeutung, das man manche Entscheidungen trifft, die allen Beteiligten ein Opfer abverlangen. Interessanter Weise hört das Märchen an dieser Stelle auf und überläßt es dem Leser, sich klar zu werden, ob die Entscheidung der Frau gut oder schlecht war.
Intuitiv mag man es recht herzlos finden, dass sie ihr Kind zurücklässt. Und dessen Vater ist sicher auch nicht gerade glücklich zu nennen. Wenn man genauer drüber nachdenkt, ist klar, das jeder sein Scherflein zu tragen hat, sogar der vermeintlich glückliche Schlangenjüngling, der vielleicht nie Erben haben wird. Und Schuld trifft in der Tat keinen.
Da wo diese Geschichte endet, fangen viele im Lovetalk erst an.
Beitragsmeldung
Dieser Beitrag verstößt gegen die Forenregeln? Hier melden.
Mutabór ist offline  
Alt 04.01.2002, 19:27   #8
Poet
Guiding light
 
Registriert seit: 05/2000
Beiträge: 12.240
...und da, wo die Geschichten des Lovetalk dann enden, da fangen die Märchen wieder auf's neue an...
Beitragsmeldung
Dieser Beitrag verstößt gegen die Forenregeln? Hier melden.
Poet ist offline  
 

Ausgesuchte Informationen

Themen-Optionen





Powered by vBulletin® Version 3.8.9 (Deutsch)
Copyright ©2000 - 2024, Jelsoft Enterprises Ltd.
Search Engine Optimisation provided by DragonByte SEO (Lite) - vBulletin Mods & Addons Copyright © 2024 DragonByte Technologies Ltd.
Alle Zeitangaben in WEZ +1. Es ist jetzt 02:43 Uhr.