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Alt 13.07.2006, 16:09  
poor but loud
Quoten-, äh, -dings
Themenstarter
 
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Die Altbauwohnung der Großeltern war der Inbegriff von Gemütlichkeit. Wir besuchten sie regelmäßig und sie uns, solange das gesundheitlich noch ging. Damals, in der Disco-Ära, schaffte die Bundesbahn den lila Längsstreifen auf den Fahrkarten ab. Sie waren aber weiterhin aus brauner Pappe unterhalb Scheckkartenformat, und die gleich großen IC-Zuschläge waren weiß und kosteten 3 oder 5 DM. Noch um 1990 war dieser Fahrkartentyp bei einigen Privat- oder Inselbahnen sowie in Teilen Osteuropas im Gebrauch.

Die Erinnerung an die eigentliche Fahrt verblasst allerdings dadurch, dass wir uns bald ein Auto leisten konnten. Die Autofahrten zu Oma und Opa sind mir aber noch ganz gut in Erinnerung. Mit unserer Stiefmutter verstanden wir uns bestens, und sie hatte wirklich Zeit für uns. Wir sind in einer freundlich eingerichteten Wohnung und in denkbar schöner Landschaft groß geworden und mussten nie als "Schlüsselkinder" leben. Und so, wie es damals war und wie die Welt inzwischen nicht mehr aussieht, so war das gerade richtig für mich. Es war alles so schön, so richtig, so poor but loud.

In diesen ca. 5 Jahren wurden Sendersuchlauf, Daddelkiste, PC und Musik-CD gerade erst erfunden. Im Mittelschulalter sahen wir uns Science-Fiction-Serien an, in denen man mit einem dem heutigen TV-Handy ähnlichen Gegenstand sowohl die Bodenstation als auch die mit Festnetzanschluss und Wählscheibentelefon hantierende Oma anrufen konnte. Heute dagegen ist das Handy längst zum Mahnmal in puncto Konsumterror und Schuldenfalle verkommen. Überhaupt, damals durften Kinder noch Kinder sein und haben nicht das gesamte zweite Lebensjahrzehnt mit drögen und freudlosen Erwachsenenwünschen - Platzhirschgehabe, Geld und Coolness - verschwendet.

Immer, wenn ich als Schuljunge eine neue Kamera bekam, träumte ich bereits von einer besseren und drückte mir an den Schaufenstern der Fotogeschäfte die Nase platt. Im ersten Drittel der Achtziger hatte ich endlich die 200 Mark für eine Agfamatic Macro Pocket und einen Elektronenblitz beisammen, kaufte dann aber doch lieber eine Kleinbildkamera vom Schlage der Ricoh 500 ME. (So eine ist leistungsfähiger und universeller, denn Negativormat und Blitzanschluss sind prinzipiell dieselben wie bei der neuesten EOS oder Dynax oder der Nikon F3. 2005 habe ich die Agfa dann zum Spottpreis gefunden und als Reisekamera eingesetzt.) Um diese Zeit zogen die Großeltern wieder in eine unweit gelegene Altbauwohung um. Auch wir zogen innerhalb der Umgebung um, und hier wurde - ich möchte fast sagen "leider" - alles anders. Gut, schöne Momente gab es auch hier. Anders – damals vielleicht auch erfrischend anders – war neben der neuen Umgebung und dem neuen Freundeskreis vor allem die ausschließliche Verwendung von weißer Raufasertapete. Ich besaß inzwischen sogar einen gescheiten Ghettoblaster, mit dem die Hitparaden-Mitschnitte (ich weiß es noch wie heute: SWF3, 89,9 (später 103,1) MHz, Pop Shop mit Frank Laufenberg, Sonntag 19 Uhr und HR3, Hitparade international mit Werner Reinke/Thomas Koschwitz, Donnerstag 19:30 Uhr) richtig Spaß machten. Ich war inzwischen ein Teenager und konnte nun mit den Büchern meines sehr belesenen Großvaters etwas anfangen. Und bis zum nächsten Besuch verging soviel Zeit, dass seine Bücher, die ich eigentlich hätte auswendig kennen müssen, wieder Neuland waren. Das war richtiggehend wie Weihnachten! Und trotzdem, am besten waren doch die Jahre in der alten Wohnung, die Zeit vor Ententanz und NdW, vor Digitaltechnik und Raufasertapete.

Ich hatte längst meinen eigenen Musikgeschmack und fand an neuen Trends zunehmend weniger Gefallen. Zwar kamen nun Privatsender auf und machten teilweise interessante Spartenprogramme - das nannte sich dann irreführend "Format"; gemeint ist natürlich "Genre". Kaum 10 Jahre später sind die fast alle den Bach runtergegangen und zu reinen Mainstream-Teeniekram-Sendern verkommen; "Format" ist heute, erst recht beim Fernsehen, nichts weiter als eine abgehobene Umschreibung für wertlosen Quotenfang-Dünnschiss.

Landschaftlich hatte die neue Umgebung kaum etwas zu bieten. Man stapfte über die Felder, kam dann in ein Wäldchen, an dessen Beginn sich bereits eine Lichtung befand, und wie damals in Poorbutloudingen sieht man vor sich und links den bergauf gehenden Wald und rechts die Wiese. Aber da diese in einer Ebene verläuft, muss man sie erst durchqueren, und die "Schlittenpiste" war nur noch ein enger Trampelpfad. Und nach links oder vorn ist der Wald auch schnell durchquert und wird von Straßen und Feldern begrenzt. Oder man transportierte den Schlitten mit dem Auto die Hauptstraße entlang ein ganzes Stück ortsauswärts. Die schönen Ausflugsziele rückten in ziemliche Ferne.

Um 1990 radelte ich einmal bis zum Aussichtsturm bei unserem alten Wohnort und darüber hinaus, bis ich fast alle Ausflugsziele von damals abgeklappert habe. Der in die Jahre gekommene Turm konnte nicht mehr bestiegen werden – der Eingang war zugemauert. Schade. Darüber hinaus wurde mir klar, welche Attraktionen wir mit der alten Umgebung alle aufgegeben hatten. Um diese Zeit starben die Großeltern. Opas Bücher wurden auf Sohn und Enkel verteilt, stehen griffbereit im Schrank und haben ihren einst weihnachtlichen Charakter verloren. Der wirkliche Heiligabend gipfelt darin, dass nicht mehr Überraschungen ausgepackt werden, sondern Dinge, die man zwecks Vermeidung von Fehlkäufen selbst bestellt hat.

Meine Halbschwester kam in dieser neuen Umgebung zur Welt. Um das Jahr 2000 haben wir noch einmal den alten Wohnort besucht. Nachdem die Kleine nun auch schon aus der Grundschule raus war und ihre Geschwister alle aus dem Haus waren, zog die nunmehr dreiköpfige Kleinfamilie weit weg und trennte sich auch von dem großen und dem kleinen Schlitten. In der neuen Umgebung kann man die ohnehin nicht mehr gebrauchen. Seitdem ist die Familie in ganz Deutschland zerstreut.

Obwohl ich keine Bilderbuch-Kindheit hatte, kommt es mir so vor, als müssten die jüngeren Geschwister zunehmend mehr von dem entbehren, was ich damals hatte. Natürlich ist das eine subjektive Sichtweise, die fast nur durch meine ureigensten Erfahrungen zustandekommen konnte. Aber trotzdem, ein paar Dinge in unserer Welt sind ja tatsächlich kontinuierlich schlechter geworden und ein paar mit großem Trara in die Welt gesetzte Hoffnungen sind zerplatzt, weil alles zerredet wurde.

Meine damalige Junggesellenbude war fast so bescheiden wie die meines Vaters 30 Jahre zuvor, und dann lief mein Leben so weit aus dem Ruder, dass ich wochenlang eine Suchtklinik von innen betrachten durfte. Das ist zum Glück überwunden, aber trotzdem: Heute, im Erwachsenenleben, kommt mir manchmal alles so stumpfsinnig und routinemäßig vor. Die schlechten Nachrichten bezüglich Politik, Wirtschaft, Krieg und Terror sind immer dieselben, nur die Namen, Orte und Details wechseln. Das Radio spielt immer wieder denselben Teenie-Kram. Und nach dem Motto "same procedure as every year, James" kommt dann irgendwann wieder die alljährliche Familienfeier, auf der man immer wieder denselben Verwandten, Kollegen und Nachbarn zuprostet, sich "Happy birthday to you" trällern lässt und mit Schrecken feststellt, dass man schon wieder ein Jahr älter geworden ist.

Im letzten Spätsommer habe ich wieder geradelt und am strahlend blauen Himmel Kondensstreifen entdeckt, die ziemlich genau einen Stern formten. Man könnte sich fragen, ob es überhaupt noch etwas Banaleres auf der Welt gibt. Man könnte sich aber auch fragen, ob es wirklich etwas Schöneres gibt. Denn schön ist es ja durchaus, wenn es auch in weniger guten Zeiten noch die eine oder andere Konstante im Leben gibt. Und der Himmel hat, seit ich denken kann, immer wieder eine diesem vergleichbare Gestalt angenommen, seit diesem Spaziergang am Ende meiner Kindergartenzeit. Ob der Ausdruck "sich wie ein kleines Kind freuen" daher kommt, dass selbst Weihnachten im Erwachsenenalter nicht mehr das ist, was es einmal war? Ob dieser Ausdruck daher kommt, dass die meisten von uns schon im Kindesalter den richtigen Blick für den Sinn des Lebens verlieren?

Wie denkt Ihr darüber? Welche Lebensphase betrachtet Ihr rückblickend als besonders schön? Woran macht Ihr das fest?
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