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Alt 14.11.2013, 08:59  
Dave Bowman
Euer Liebden
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Helmut Kohl berichtet über seine letzte Begegnung mit Willy Brandt 1992 so: Der damalige Kanzler besuchte Willy Brandt in dessen Haus in Unkel, wissend, dass es mit ihm zu Ende geht. Als Kohl ankam, bestand Willy Brandt darauf, ihn nicht im Bett, sondern im Wohnzimmer zu empfangen. Kohl sagte Brandt, diese Mühe hätte er sich doch wirklich nicht machen müssen, Brandt aber antwortete: "Ich kann doch meinen Bundeskanzler nicht im Bett liegend empfangen."

Diese kleine Geschichte hat mich sehr berührt, bedenkt man, welche politischen Kämpfe gerade diese beiden über die Jahrzehnte geführt haben. Ich sehe immer diese sehr gequälte Miene von Willy Brandt vor mir, als er am Nachmittag des 1. Oktober 1982 im Plenarsaal von Bonn die wenigen Schritte hinüber zu Helmut Kohl machte, um ihm zu gratulieren. Man sah ihm an, wie unendlich schwer ihm das innerlich fiel.

Vielleicht war seine größte und stärkste Zeit in der Politik die als Regierender Bürgermeister von Berlin, vor allem 1961, als er gegenüber der westlichen Militärverwaltung wohl nie ein Blatt vor den Mund nahm und dabei nicht nur im Namen der Berliner handelte. Dass er trotz des Mauerbaus später als Kanzler den Ausgleich mit der UdSSR suchte, halte ich für seine bedeutendste Leistung als Regierungsschef. Dass er bald darauf der Gewerkschaft ÖTV scheinbar widerstandlos nachgab und mehr als 10(!!) Prozent Lohnerhöhung zustimmte, für seine schwächste, denn diese Forderung war maßlos und musste mit Schuldenpolitik finanziert werden.

Auch dass er die jahrzehntelangen Anfeindungen des rechtskonservativen Lagers als "Vaterlandsverräter" so souverän ignorierte, weil er während des Krieges als Journalist ungebrochen in Schweden gegen die Nazis anschrieb, hat mein höchste Achtung.

Das seltsame fand ich immer, dass es wohl ausgerechnet das überstandene Misstrauensvotum, von der CDU/CSU und Teilen der FDP im Frühjahr '72 inszeniert, war, dass ihm die Lust an der Kanzlerschaft genommen hat. Auch der überwältigende Wahlsieg vom Herbst 1972 konnte daran scheinbar nichts mehr ändern.

Brandt war kein Wirtschaftsfachmann (Helmut Schmidt, im Gegensatz zur stetig gepflegten Legende, übrigens auch nicht), oder ein finanzpolitischer Könner. Aber er sprach die Leute direkt an, er war, kaum vorstellbar heute, wirklich beliebt. Und respektiert im Ausland, weil glaubwürdig.

Alles in allem, eine große Persönlichkeit in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland.
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