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Alt 09.10.2018, 16:30  
El Guapo25
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Teil 2


Hinhalten, was Besseres suchen und einfach nicht mehr melden

Sind wir denn immer auf der Suche nach der besseren Option? Gibt es tatsächlich zu viele Optionen, weil wir wischen und wischen und wischen können? 36 Prozent der Berliner sind Singles, in Hamburg 35 Prozent und in anderen Metropolen sieht es genauso aus. Das sind eine ganze Menge Singles, die man theoretisch als potentielle Partner prüfen könnte. Zu viele. Deshalb braucht es Suchkriterien. Die jedoch dürfen nicht zu streng sein, um sich nicht mögliche Optionen versehentlich aus der Vorschlagsliste zu kegeln. Gibt man die Auswahl ab, dann nagt der Zweifel, ob man nicht doch das Beste verpasst. Will man sich nur auf das eigene Urteil verlassen, dann verliert man die Übersicht. Statt lebenslanger Beziehung heißt es dann lebenslange Partnersuche.

Immer wieder wird die Studie mit den vielen Joghurt-Bechern im Kühlregal zitiert: Zu viel Auswahl verhindert danach eine Entscheidung. Nun ist ein Partner keinen Joghurt und eine Beziehung befriedigt ganz andere Bedürfnisse. Bei der Partnersuche geht es um den Wunsch nach Bindung und damit sind wir beim Bindungsverhalten. Und das halte ich für den Auslöser der wachsenden Probleme bei der Partnersuche, denn es geht nun um das Spannungsfeld von Bindungsangst und Verlustangst.

Wer überzeugt ist, nicht gut genug zu sein, und sich Liebe verdienen zu müssen, der wird ein ängstliches Bindungsverhalten zeigen, sich also um Liebe bemühen, dem potentiellen Partner immer wieder zeigen wollen, wie liebenswürdig man wäre. Wer hingegen überzeugt ist, dass nur die Kontrolle über sich selbst, also Autonomie und Selbstbestimmung verhindern kann, in einem Wir aufgehen zu müssen, zeigt ein vermeidendes Bindungsverhalten.

Statistisch gibt es etwa 20 Prozent vermeidende Typen, ähnliche viele ängstliche Typen, 50 Prozent sichere Typen und einige Mischformen. Die 50 Prozent an sicheren Typen können Liebe geben und empfangen, sie bleiben kaum lange allein, finden nach einer Trennung schnell wieder einen neuen Partner. Das bedeutet, sie sind auch nicht lange auf dem „Markt“ und entsprechend rar. Hingegen treffen nun die ängstlichen auf die vermeidenden Typen und es ist gut erforscht, wie sehr sich diese Typen gegenseitig anziehen. Denn der vermeidende Typ erhält Anerkennung durch den ängstlichen Typ. Und der ängstliche Typ kann aufgehen in seinem Bedürfnis, sich zu bemühen, da sich das Gegenüber grundsätzlich zurückziehen wird, wenn es ihm wieder zu eng wird.


Die Generation Kontaktabbruch hat es tatsächlich schwer bei der Partnersuche

Partnersuche ist ein Dschungel, wenn nicht sogar ein Schlachtfeld. Erwartungen stehen einander gegenüber, die kaum ein Mensch erfüllen kann. Die Forscherin Esther Perel sagte: „Wir treffen also auf eine einzige Person und wollen, dass sie uns all das gibt, was früher ein ganzes Dorf leistete.“ Wir wollen Alles mit Einem für Immer – den so genannten AMEFI-Partner, der bester Freund, leidenschaftlicher Liebhaber, Sparring-Partner, Sport-Begleiter, Vater oder Mutter unserer Kinder ist – alles gleichzeitig.

Wir wissen: So einen Traumpartner bekommt man nur (und kann ihn nur halten), wenn man selbst in einer solchen Liga spielt. Einige Singles stürzen sich deshalb in Selbstoptimierung. Sie versuchen einen Korb zu vermeiden, indem sie sich zu dem vermeintlichen Traumpartner verwandeln, den sie sich selbst wünschen: mehr Sport, mehr außergewöhnliche Freizeitaktivitäten, mehr Anerkennung. Aber was verbirgt sich dahinter? Vor allem doch Unsicherheit. Woher kommt die?

Der Schlüssel ist unser Selbstwertgefühl. Und das bekommt mit jeder Zurückweisung, mit jeder Trennung – und von denen erleben wir heute mehr als jede Generation vor uns bei der Masse an Beziehungen, Affären und Freundschaft Plus-Beziehungsmodellen, die wir führen – einen Schlag. Wir entwickeln aus dem verletzten Selbstwert heraus Schutzstrategien, um nicht erneut verletzt zu werden. „Ich kann mich nicht binden“ ist eine solche Strategie ebenso wie „Ich kann nie wieder vertrauen.“ Oder zu sagen: „Ich bin beziehungsunfähig!“

Die Angst vor der falschen Partnerwahl wird dadurch überdimensional. Während wir Kontakt zu Kontakt taumeln, ghosten und geghostet werden, träumen wir von einer monogamen, lebenslangen Beziehung, die bis zum Sterbebett hält. Unsere Mercedes-Mentalität lässt nur diesen Wunsch zu. Eine Entscheidung für einen Partner ist unter einem solchen Vorsatz natürlich eine Mammutaufgabe, an der viele scheitern. Beziehungsglück ist so verklärt, dass die Ansprüche unerfüllbar werden.

Man darf nicht vergessen, Liebesbeziehungen wie wir sie heute führen, kannten nicht einmal unsere Großeltern. Meine Mutter benötigte die Erlaubnis, einen Führerschein zu machen. Viele kommentieren die herrlich romantischen – und überromantisierten – Videos, in denen ein Paar 70 Jahre verheiratet war und gemeinsam verstorben ist, mit Aussagen wie: „Sowas will ich auch!“ „Das gibt es alles nicht mehr in dieser Wegwerfgesellschaft“ „Das ist doch heute nicht mehr möglich“ Das Bedürfnis ist verständlich, doch das ist eine ganz falsche Nostalgie.

Nicht dass es nicht tatsächlich glückliche Paare gegeben hat, die gab es sicher, aber ohne die Gleichberechtigung seit der Sexuellen Revolution vor nur wenigen Jahrzehnten würde es heute keine Beziehung auf Augenhöhe geben können. Und in Deutschland gilt juristisch „Nein heißt Nein“ gerade erst seit wenigen Jahren. Das reife Paar aus dem Video konnte sich beim Kennenlernen nicht einmal ein Zimmer mieten, solange es unverheiratet war und musste Sex auf der Rückbank eines Autos haben (wenn es sich denn eines leisten konnte), Coitus Interruptus war die Verhütungsmethode der Wahl und ein uneheliches Kind bedeutete Schande und gesellschaftlichen Makel. Stress pur! Wenn ich gedankenlose „Früher war alles besser!“-Parolen lese, dann möchte ich mit Geschichtsbüchern um mich werfen. Aber das ist eine Strömung, die wir gesellschaftlich in allen Bereichen erleben: Die Furcht vor dem Neuen lässt das Vergangene, das man selbst nicht miterlebt hat (oder miterleben musste), besser erscheinen.

Singles heute sind nicht zwingend unverbindlicher, wer ihnen das pauschal vorwirft, macht es sich zu leicht. Sie sind vor allem gestresster, weil sie sich unrealistischen Erwartungen unterwerfen (müssen). Und jedes Mal, wenn in der Kennenlernphase der Realitätscheck negativ ausfällt, müssen sie eine Entscheidung treffen, die letztlich zu einem Kontaktabbruch führen wird. Aus Furcht, sich jedoch die eine Chance auf das große Liebesglück durch eine unbedachte, voreilige Entscheidung völlig zu ruinieren, entwickeln sie Strategien wie Anfüttern (Breadcrumbing) oder Hinhalten und auf die lange Bank schieben (Benching). Nicht aus Boshaftigkeit, sondern aus Hilflosigkeit. Sie sind tatsächlich Opfer und Täter – gleichzeitig, weil sie mit ihren Verhaltensweisen sich gar nicht wirklich vor Verletzungen schützen. Im Gegenteil: sie verletzen einander erst recht.


Liebe ist eine Entscheidung und die erfordert Mut

Nicht jeder Kontakt wird zu einer Beziehung. Je nach Umfrage, eher jeder sechste bis zwölfte Kontakt. Das sind eine Menge Zurückweisungen und Körbe auf dem Weg zur großen Liebe. Jeder entscheidet sich ständig gegen einen Kontakt und nur in den seltensten Fällen für einen. Es braucht erheblich mehr Mut, sich im Bus neben die Person zu setzen, die man attraktiv findet, und dann womöglich nicht einfach nur aufs Smartphone zu schauen, sondern ein Gespräch zu beginnen und wenn das gut läuft, die Nummer – oder den Namen bei Instagram – zu tauschen, als weiterzugehen in die letzte Reihe und sich zu setzen und über sein Singlesein zu klagen. In einer Zeit, in der uns Matches Sicherheit vorgaukeln, aus uns könnte – weil wir beide in die gleiche Richtung gewischt haben – ein Liebespaar werden, ist Zurückweisung zum Albtraum geworden.

Aus Furcht vor weiteren Verletzungen beschließen wir lieber, nie wieder zu vertrauen. Wir unterstellen Unbekannten schon einmal vorsichtshalber, was andere uns angetan haben und bestrafen sie und uns mit Misstrauen. Wir suchen nicht, wir lassen uns finden – von dem einen, mit dem alles perfekt werden kann. Dabei vergessen wir aber: Perfektion gibt es nicht und nur bereit zu sein, sich mit einem Ideal einzulassen, das es nicht gibt, ist eine – perfekte – Beziehungsverhinderungsstrategie. In dieser Position lässt sich prima das eigene Elend und die Schlechtigkeit der Welt, Generation oder wahlweise Männer oder Frauen beklagen. Man ist schließlich Opfer! Gleichzeitig erzählt man in fiesesten Worten über das Totalfiasko, das das letzte Date war, um sich durch ein paar Lacher ein wenig Anerkennung und Selbstwert zurückzuholen.

Ich wurde schon häufig belächelt über meinen Rat für Partnersuchende: Seien Sie selbst die freundliche, liebenswürdige und offene Person, die Sie sich als Partner wünschen. Das sei doch selbstverständlich, höre ich oft. „Das ist kein Rat, das ist normal“, höre ich gelegentlich. Würde er nur befolgt, denke ich mir dann. Die Welt wäre ein schönerer Ort und es würden sich von den fast 17 Millionen Singles in Deutschland ganz sicher mehr finden – und zusammenbleiben, um es miteinander zu probieren. Denn nur in einem Klima, in dem Mut honoriert wird, findet Feigheit seltener statt. Nur wenn Vertrauen belohnt wird, kann sich Zuversicht einstellen. Liebe ist kein Schicksal, Liebe ist eine Entscheidung.
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