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Alt 27.08.2003, 11:34  
Gina
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Registriert seit: 08/1999
Beiträge: 3.703
Es ist schön, dass du das kannst, Tobster. Ich kann es noch nicht. Wenn ich an meinen Vater denke - das tue ich jeden Tag, fast jede Minute -, dann denke ich hauptsächlich an die letzten Monate, genauer gesagt, an das letzte Jahr mit ihm...

Er hatte einen Unfall, war daraufhin von Hals an abwärts gelähmt. Als ich ins KH kam und ihn so zum ersten Mal sah - komplett gelähmt, starr, hart, steif, kalkweiss, unfähig zu sprechen (erst nach ein paar Wochen konnte er wieder sprechen), unfähig, auch nur seinen kleinen Finger zu rühren -, war es ein Schock, wie er schwerer nicht sein konnte. Dieses Bild ist auch heute, nach 5 Jahren, dermassen klar und präsent. Und mit diesem Bild durchfährt mich jedes Mal wieder ein stechender Schmerz, der mir den Magen zuschnürt, das Herz zerreisst.
Ein Jahr in Angst und Hoffnung folgte. Kliniken, Therapien, Operationen, zuletzt die Abschiebung ins Pflegeheim - Schwerstpflegefall. Er lag fast ein Jahr nur herum. Das einzige, was er konnte, waren seine Augen auf- und zumachen, seine Nase rümpfen, seinen Mund öffnen und kauen. Der Verstand war klar. Das war das schlimmste. Wie, WIE MUSS sich ein Mensch dann fühlen?? Wie hat er sich gefühlt? ER ist mein Dad und ich liebe ihn über alles, genau wie meine Mutter. Und durch diese Liebe spürt man den Schmerz. Seiner war meiner. Und ist es noch heute.

Nach einem Jahr in Kliniken, Kuren und Pflegeheimen starb er dann nach einer lebensnotwenigen Operation. Lag ein paar Tage im angeblich "künstlichem" Koma, doch er konnte nicht mehr rausgeholt werden, verstarb dann einfach. Alle Hoffnung dahin. Das war der schmerzlichste Tag in meinem Leben. Jetzt weine ich gerade... ich muss immer weinen, wenn ich an diesen Tag denke. Und ich kann nicht anders, als daran zu denken. Es ist einfach präsent. Dieses Erlebnis vor fast 4 Jahren war so heftig für mich - es lässt sich nicht einfach abschütteln.
Erlebnisse, die durch heftigen Schmerz geprägt sind, sind immer präsenter, haften sich immer mehr ins Gedächtnis, als Erlebnisse, die schön sind. Was ist überhaupt schön? Hat denn jeder Mensch schon mehrere Erlebnisse gehabt, an denen er Glück pur spürte? Ja, vielleicht bei der Geburt seines Kindes, bei der Hochzeit, bei der Genesung nach einer Krankheit o.ä. Das hatte ich allerdings noch nicht. Ich kann nicht nicht behaupten, dass ich jemals ein Erlebnis hatte, das im Verhältnis gleich schön wie schmerzhaft war... von der Intensität.

Sprüche wie "Denk doch an die schönen Zeiten", "Dein Vater ist doch immer in deinem Herzen", "Du musst nach vorne schauen" etc. bla bla sind vielleicht richtig, aber sie lassen sich nicht auf Knopfdruck realisieren. Einige könnten es vielleicht, wenn sie denn dasselbe durchlebt hätten, - ich kann es jedoch nicht. Noch nicht.
Ich muss mir Zeit geben. Ich muss weiterhin daran glauben, dass die Zeit die Wunden sehr langsam heilen wird.
Ich vermisse ihn unheimlich, nicht nur ich, auch meine Mutter. Er hat eine sehr sehr grosse Lücke hinterlassen, macht uns das Leben schwieriger, denn meine Ma ist schwerkrank und ich muss nun alleine damit zurechtkommen. Wir haben hier keine Familie, die uns unterstützen könnte. Er fehlt uns, hinterlässt Spuren im Herzen, die brennen wie Feuer.
Und dieser Schmerz... - es ist, als hätte ich dort gelegen und nicht er.

Geredet habe ich darüber so viel... mit Freunden, mit Therapeuten. Ich hatte nicht das "Problem" wie du, Tobster, dass ich nicht darüber reden konnte. Im Gegenteil: Ich wollte von Anfang an meinen Schmerz rauslassen, ich dachte sonst, ich würde zerplatzen. Vor 3-4 Jahren habe ich hier im LT sehr viel darüber gejammert, geweint, geschrieben... die meisten Threads sind im Nachhinein jedoch gelöscht (versteckt?) worden.
Und auch heute habe ich das Bedürfnis, darüber zu reden, zu klagen, zu weinen. Nur habe ich es mir abgewöhnt, es in öffentlichen Foren zu tun. Das kann mitunter Missverständnisse/ Unverständnis hervorrufen, die sehr schmerzhaft sind.

Ich weiss, mein Leben muss weitergehen, ich muss diese Sache akzeptieren, damit leben. Ja. Nur ist es sehr schwer. Und es geht nicht auf Knopfdruck, erstrecht nicht, wenn jemand mit der "Holzhammermethode" kommt. Ich muss mir Zeit geben. Das ist im Endeffekt die einzige Hoffnung, die ich noch habe. Die Zeit muss die Wunden heilen, wie man so schön sagt. Und niemand darf diesbezüglich ein Limit setzen.

Dieser und noch andere Schicksalsschläge (ist es falsch, sie als solche zu bezeichnen?), haben wohl die Depression verursacht. Wobei ich noch skeptisch bin, ob es das denn wirklich ist. Es gibt viele psychologische Krankheiten/ Gemüts-/Belastungszustände.... die Medizin ist diesbezüglich noch lange nicht ausgereift, erstrecht nicht, was die Behandlungsmethoden betrifft. Leider.
Die Erfahrung, eine (mittelschwere oder schwere) Depression zu haben, zu durchleben, zu spüren, ist ein weiterer Schicksalsschlag. Denn Depressionen beeinträchtigen wie kaum eine andere Erkrankung (ich sage nicht jede!) in fundamentaler Weise die Lebensqualität. Nur leider werden sie oft verkannt, oft pauschal abgewertet, nicht begriffen, nicht in der Form ernst genommen, wie sie müssten.
Das sehe ich z.B. an dem Angebot von Selbsthilfgruppen. Monatelang war ich auf der Suche. Habe Krankenkassen, Psychiater, Hausärzte gefragt - niemand gab mir konkret Adressen. Auch die Hotlines nicht. Angeblich gäbe es nur welche, die weiter weg waren, was mich wieder entmutigt hat. Durch Zufall, puren Zufall, bin ich im Internet auf eine Seite gelangt, die Angaben dazu hatte. In einer Nachbarstadt gab es tatsächlich eine SHG. Vor Freude habe ich geheult. Dort bin ich nun, aber leider ist es doch ganz anders, als ich mir vorstellte. Die Fluktuationsrate ist sehr hoch, es kann keine feste Gruppe gebildet werden, es gibt keine "führende Hand". Ob es in anderen Städten auch so ist, weiss ich nicht. Ich werde weitersuchen, vielleicht werde ich auf meiner HP später auch eine Seite zu diesem Thema erstellen. Damit wenigstens andere an diese Adressen gelangen (ohne grossen Aufwand). Und ich werde dann allen Ärzten in meiner Stadt einen Brief schreiben, dass sie sich diese SHG-Adressen doch bitte notieren und dem nächsten Betroffenem klare Antworten geben können.

Ich habe in diesen Bereichen leider immer wieder negative Erfahrungen gemacht. Da gesteht man sich schon ein, eine Depression zu haben, und denkt, nun kann man alles notwendige in Angriff nehmen, und was ist? Nichts. Kaum ein Arzt (hier in meiner Stadt - und es ist keine kleine) weiss Bescheid; auch, was die Therapeutenliste betrifft. Und wenn man dann doch einige Therapeuten zusammengesucht hat, muss man sich am Telefon anhören, noch eineinhalb (!!!) Jahre warten zu müssen, bis ein Platz frei ist.
Wie bitteschön soll man sich da fühlen? Ermutigt? Hilfe?

Es ist nicht immer alles Gold, was glänzt und erstrecht nicht einfach - Patentrezepte gibt es nicht. Was es braucht, sind Ärzte/ Berater/ Therapeuten, die ZEIT haben. Und es braucht Austausch... mit Menschen, die endweder sensibel genug sind, oder selber betroffen sind. Ich habe mir in Psycho-/Depressionsforen oft Anregungen holen können, Hilfestellungen, Adressen... ich möchte es nicht missen wollen.



Jetzt habe ich viel geschrieben (lange ist es her...), vielleicht gehört die Hälfte hier auch nicht hin. Aber vielleicht gibt es ja im LT auch Menschen, die ähnliches durchlebt haben, oder sich bisher unverstanden und alleine gefühlt haben mit ihrer Depression/ Trauer/ ihren Problemen, oder sich schämten, darüber zu sprechen/ schreiben.

Wenn ich jemandem einen Tipp oder eine Adresse geben kann, der soll mich anschreiben.

Liebe Grüsse!

Geändert von Gina (27.08.2003 um 11:42 Uhr)
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